Fachartikel12. Februar 2018

SIDS im Elternbett – die Probleme der Forschungsmethodik am Beispiel von Carpenter et al

Dass das Schlafen im Elternbett das Risiko eines Plötzlichen Kindstods (SIDS) für einen Säugling erhöhen kann, ist in der SIDS-Forschung unbestritten. Und doch sind nicht alle Rätsel gelöst: geht das erhöhte Risiko von Gefahren aus, die manchmal – aber nicht immer – mit dem Schlaf im Elternbett verbunden sind (wie etwa rauchende Eltern), oder liegt das Risiko im gemeinsamen Schlafen per se? Die Debatte wurde jetzt durch eine Analyse älterer Datenbestände neu entfacht.

Aus Sicht der Humanethologie ist der gemeinsame Schlaf von Mutter und Baby ein menschheitsgeschichtliches Vermächtnis – bis zum Beginn der Sesshaftigkeit war die optimale Ernährung des Säuglings, seine Temperaturregulation sowie Schutz vor Raubtieren nur in einem geteilten Schlafumfeld sichergestellt. Die moderne Schlafforschung belegt eine dyadische Regulation des Säuglingsschlafs: Gehirnaktivität und Schlafstadien sind zwischen einer (stillenden) Mutter und ihrem im Nahbereich liegenden Baby synchronisiert. Nächtliche EEG-Ableitungen und Infrarot-Videoaufnahmen zeigen, dass gestillte Säuglinge im Nahbereich ihrer Mütter häufig auf den Rücken oder die Seite umgelagert werden, und insgesamt deutlich weniger Zeit in Tiefschlafphasen verbringen.

Obwohl diese intuitive Kommunikation als Schutz vor SIDS gewertet wurde zeigen epidemiologische Studien einen U-förmiger Zusammenhang zwischen „Nähe zu erwachsenen Schlafpartnern“ und SIDS: auf der einen Seite scheint die komplette räumliche Distanz zu den Eltern gefahrenbehaftet – Babys, die in einem eigenen Zimmer schlafen, sind etwa 2 – 3 mal häufiger Opfer von SIDS als wenn sie im eigenen Bett im Zimmer der Eltern schlafen. Aber auch der Schlaf im Elternbett ist mit einem ähnlich stark erhöhten SIDS-Risiko verbunden – neben Zigarettenrauchen, Alkohol- und Drogenkonsum werden dafür in epidemiologischen Studien die Positionierung des Kindes in Bauchlage, ein ungünstiges Schlafumfeld (Sofa, Sessel, Wasserbett, zu weiche Matratze) sowie Formula-Ernährung verantwortlich gemacht (Stillen geht mit einem halbierten SIDS-Risiko einher).

Nun präsentiert der Londoner Statistiker Bob Carpenter in BMJ Open eine Berechnung, nach der das SIDS-Risko im Elternbett – zumindest in den ersten 3 Lebensmonaten – auch für solche Babys erhöht ist, die gestillt werden, und deren Eltern weder rauchen noch Alkohol konsumieren.

Die Kommentare und die (bei dieser open access Veröffentlichung frei einsehbaren) peer reviews zeigen, wie umstritten diese Berechnungen sind – aber auch, welche Fallstricke generell die Interpretation von Fall-Kontroll-Studien erschweren. Die folgende Zusammenfassung gibt den Inhalt eines eigenen e-letters in BMJ Open wider, ergänzt durch seither von anderen Arbeitsgruppen vorgebrachten Überlegungen.

  • Obwohl Stillen, und dabei insbesondere das ausschließliche Stillen, als Schutzfaktor gegen SIDS bekannt ist, werden in Carpenter´s Analyse auch die teilweise Fläschchen-gefütterten Babys zu den “gestillten” Kindern gerechnet.

  • Unter „bed sharing“ werden auch Fälle subsumiert, in denen das Baby normalerweise gar nicht bei den Eltern im Bett schläft, sondern lediglich seine letzte Nacht im Bett der Eltern verbracht hat. Aus der Literatur ist aber bekannt, dass in solchen Fällen oft besondere (mütterliche oder kindliche) Risiko-Konstellationen vorliegen.

  • Daten zum Alkohol- und Drogengenuss der Mutter waren nur für 40% der Fälle verfügbar. Die Lücke wurde durch einen mathematischen Algorithmus geschlossen, der für die Fälle mit unbekanntem Alkoholkonsum einen bei homogener Verteilung „zu erwartenden“ Wert einfügt.

Als Hauptproblematik zeigt sich aber die Fall-Kontroll-Methodik selbst, auf die sich die SIDS-Forschung notgedrungen stützt:

  • Zum einen unterliegen die per Fragebogen erhobenen Angaben einer systematischen Verzerrung – wer ein im eigenen Bett verstorbenes Baby zu betrauern hat, wird sich nicht immer akkurat an die (immer ja auch mit der Schuldfrage verbundenen) Einflussfaktoren erinnern: wurde Alkohol konsumiert? Wie viel? Wurde geraucht? Auch Marihuana?. Jedes nicht akkurat erfasste Risiko führt aber zu einer (fälschlichen) Risiko-Zuschreibung auf den Schlaf im Elternbett per se.

  • Eine zweite Verzerrung kommt durch den sehr unterschiedlichen Rücklauf der Fragebögen ins Spiel. Dieser liegt für die zugeordneten Kontroll-Babys deutlich unter dem Rücklauf bei den SIDS-Fällen. Die Kontroll-Fälle stellen damit oft eine Auswahl mit Betonung des Mittelschichtsmilieus dar, in dem möglicherweise seltener das Elternbett geteilt wird als in der Bevölkerung insgesamt. Auch dies führt bei einem Fall-Kontroll-Design zu einer (fälschlichen) Risiko-Zuschreibung auf den Schlaf im Elternbett per se.

Diese teilweise unvermeidbaren Einschränkungen legen eine vorsichtige Interpretation von Fall-Kontroll-Studien nahe. Die Betrachtung der absoluten Zahlen zeigt, dass es sich bei SIDS im Elternbett heute um ein seltenes Ereignis handelt. Von der jährlichen deutschen Geburtskohorte (675 000 Babys) sind im Jahr 2011 147 Babys an SIDS verstorben (89 % weniger als im Jahr 1991). Nach den Daten der GeSID-Studie sind dabei etwa 21 Fälle von SIDS im Elternbett anzunehmen. Von diesen wird nach dem GeSID-Datensatz nur eine deutliche Minderheit überhaupt gestillt gewesen sein. Zudem werden in den allermeisten Fällen (allein, zusätzlich oder in Kombination) Zigarettenrauchen, Alkohol und andere riskante Einflüsse eine Rolle gespielt haben.

Aus der public health-Perspektive erscheint damit die Aufklärung über vermeidbare SIDS-Risiken derzeit vordringlich – zumal der pauschale Rat gegen bed sharing auch bei Niedrig-Risiko-Gruppen selbst zu einem SIDS-Risko werden könnte: wenn nämlich manche Mütter aus Angst, ihr Kind zu sich ins Bett zu nehmen, nachts dann an solchen Orten stillen und dort möglicherweise einschlafen, wo mit Sicherheit ein erhöhtes Risiko besteht: auf der Couch oder im Sessel (statistisch ist das Kindstod-Risiko hier etwa 50-fach erhöht, unter anderem weil es zu akzidentellen Erstickung kommen kann).

Dieser Fachartikel ist zuerst erschienen in: KINDER- UND JUGENDARZT 44. Jg. (2013) Nr. 8

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