FAQ

Bestimmt die Evolution denn überhaupt noch unser Verhalten?

Ja und nein. Tatsächlich ergibt sich ein großer Teil unseres Verhaltens aus Traditionen und kulturellen Einflüssen, also aus dem, was wir im Laufe unseres Lebens von anderen erlernt haben. Da spielen dann unsere unverwechselbaren persönlichen Erfahrungen hinein, unser Elternhaus, überhaupt unsere Kindheit und unsere Persönlichkeit. Und sogar ob wir gut oder schlecht geschlafen haben, hat einen Einfluss auf unser Verhalten.
Aber dann sind da auch Verhaltensweisen, die wir nicht im Laufe unseres Lebens erlernt haben, sondern die wir Menschen sozusagen ins Leben mitbringen. Diesen universellen Verhaltens»kern« teilen wir mit allen anderen Menschen − er ist nämlich Teil unserer evolutionären Geschichte.
Wer sich etwa verliebt macht eine Erfahrung, die in uns sozusagen »angelegt« ist − und auch wenn jeder auf seine individuelle Art verliebt ist, so verhalten sich verliebte Menschen doch ganz ähnlich. Das gilt auch für eifersüchtige Menschen und generell für die Art, wie wir mit Emotionen umgehen. Da spielt immer auch die tiefere Menschheitsgeschichte mit hinein.
Und im Alltag? Auch da spielen unsere evolutionären »Voreinstellungen« eine Rolle. Begleiten wir dazu einmal Frau Melanie Müller auf ihrem Weg ins Büro (dieses Beispiel ist dem Kapitel 9 von »Kinder verstehen« entnommen, in dem das Wirken der Evolution im Detail behandelt wird).

Aufstehen, das Frühstück machen. Dass sich Frau Müller auch heute wieder für eine »light« Version entscheidet, hat etwas mit den Röllchen zu tun, die sich über ihrer Gürtelschnalle vordrängen. Über dasselbe Phänomen klagt fast die Hälfte der homo sapiens Exemplare in Deutschland. Und dass das so ist, hat etwas mit der Evolution zu tun: sie hat den Appetit aller Säugetiere − auch den des Menschen − so eingestellt, dass sie immer ein bisschen über den Bedarf hinaus essen. Das half unseren Vorfahren über eine Trockenzeit oder über den strengen Winter. Aber heute? − Heute, wo das gelbe »M« auch die Winternächte in den Städten erhellt, handeln wir noch immer so, als vermassle uns der nächste Schneesturm auf Wochen die Jagd. Wer an der Aktualität der Evolution zweifelt, den kann vielleicht ein Blick in Richtung Füße eines Besseren belehren.

Zur Arbeit fahren, an der roten Ampel anhalten. Rot? Dass Frau Müller das Signal überhaupt sieht (und nicht etwa auf Wellen im Ultraschall- bzw. Infrarotbereich reagiert wie z.B. Fledermäuse oder Bienen es tun) liegt daran, dass die angestammten Nahrungsquellen und die natürlichen Feinde des Menschen wichtige Merkmale im »farbigen« Wellenbereich des Lichts haben. Rot etwa steht in der Natur oft genug für reif und damit wertvoll. Rote Beeren oder Früchte zu erkennen, war gut für das Überleben des Menschen (und vieler anderen Tiere); die Wahrnehmung von Wellen im Infrarotbereich dagegen hatte für den Menschen keinen besonderen Überlebensvorteil und hat sich in seinen Genen nicht durchgesetzt.

Vor dem Aufzug wartet Frau Müllers beste Freundin, Sandra. Und sie sieht gar nicht gut aus! Sie klagt über Übelkeit, und das nun schon die ganze Woche, vor allem Morgens… Die Geste, mit der sie sich über den Bauch streicht, bestätigt Frau Müllers Vermutung: Sandra ist schwanger. Schwangerschaftsübelkeit und die damit verbundene Abneigung gegen bestimmte Gerüche und Geschmackserfahrungen kommt in allen Kulturen vor und ist selbst bei anderen Säugetieren beschrieben. Eine besonders starke Abneigung besteht gegenüber solchen Nahrungsmitteln, die häufiger mit Giftstoffen beladen oder leicht verderblich sind: Gewürze, Alkohol, Fisch und Fleisch. Was könnte dahinter stehen? Ein erster Hinweis ergibt sich aus dem zeitlichen Auftreten der Schwangerschaftsübelkeit: sie ist in den ersten drei Monaten am intensivsten, also gerade in der Zeit, in der sich die Organe des Ungeborenen bilden und die Anfälligkeit des Ungeborenen gegenüber Giftstoffen am höchsten ist.
Der »Sinn« der Schwangerschaftsübelkeit liegt somit nahe: die gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Düften und Nahrungsmitteln »zwingt« der werdenden Mutter eine relativ sichere Ernährung auf und schützt so das Ungeborene vor einer möglichen Schädigung durch Giftstoffe oder Krankheitserreger!

Gemeinsam im Aufzug. Mit dem Außenaufzug in den siebten Stock, ein mulmiges Gefühl beim Blick in die Tiefe. Ganz eindeutig: die 30 Meter erscheinen Frau Müller weitaus länger als wenn sie 30 Meter auf der Straße geradeaus blickt. Die Antwort der Evolutionsbiologie: Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist kein eins-zu-eins-Abbild der Realität. Vielmehr nehmen wir die Welt durch einen Zerrspiegel wahr, und in dessen Krümmung hat die Evolution die Vor- und Nachteile für unser Überleben einkalkuliert! Die Tiefe kommt uns deshalb tiefer vor, weil es für das Überleben so »teuer« war zu fallen.

Heimkehr nach Hause in der Dunkelheit. Obwohl Frau Müller den Weg gut kennt, und obwohl sie in einer wirklich sicheren Gegend wohnt, macht sie beim Weg um das Haus lieber das Licht an. Nachts ist es einfach »unheimlich!« Dieses mulmige Gefühl zeigt klar: Tageslicht war für das menschliche Leben weniger gefährlich als die Dunkelheit. Und wundert es uns da, dass das bei vielen anderen Lebewesen anders ist? Ja, richtig: sie fürchten sich im Licht.